Sich nach der aufgehenden Sonne richten

Weihnachtsbrief 2017 des Generalabtes OCist

Liebe Brüder und Schwestern,
während wir uns auf das Ereignis der Geburt des Herrn vorbereiten, blicke ich mit Dankbarkeit
auf das intensive Jahr und die vielen Begegnungen mit euren Gemeinschaften. Ich vergesse die zahlreichen kritischen und dramatischen Situationen nicht, die ich mitvielen von euch erlebt habe. Es sind persönlichen Verhältnisse, aber auch Gegebenheiten der Gemeinschaften, der Kirche, der Gesellschaft, der Politik, in denen wir uns verloren, orientierungslos vorkommen. Deshalb musste ich immer wieder über das Thema der
Orientierungslosigkeit nachdenken, d.h. über die Situationen , die uns blockieren und die Fähigkeit nehmen, die Richtung des Weges zu erkennen, den wir einschlagen müssen. Dieser Zustand der Orientierungslosigkeit ist heute eine kulturelle Erscheinung, die oft von jenen ausgenützt wird, die meinen, ohne grosse Anstrengung Macht erobern zu können.
Wenn ein Volk nicht mehr weiterweiss , wird es leicht zur Beute desjenigen, der am lautesten schreit, man brauche bloss ihm zu folgen. Die Diktatoren sind immer Menschen, denen es gelingt, die Massen auf ihre Person auszurichten, ganz egal, was für ein e Ideologie sie vertreten. Der heilige Benedikt warnt uns davor: Jeder von uns kann dieser Versuchung erliegen in der kleinen Welt seiner Gemeinschaftoder Familie, im Bereich seiner Arbeit und
Verantwortung, und zum „Tyrannen“ seiner Umgebung werden (vgl.RB 27,6; 65,2).
O Oriens!
Das Christentum ist die Antwort auf diese Situation der Orientierungslosigkeit, in
die das Herz des Menschen und die ganze Gesellschaft immer wieder hineinschlittern. Seit seiner ersten Ankunft im Stall von Bethlehem weist Jesus Christus den Menschen den Weg. Er ist derjenige, dem wir in der Antiphon der
Liturgie des 21. Dezember feierlich singen: „O Oriens!“
O Aufgang,
Glanz des ewigen Lichtes,
du Sonne der Gerechtigkeit,
komm, o Herr, und erleuchte uns,
die wir sitzen in Finsternis
und im Schatten des Todes.
Das Verb „orientieren“ ist direkt vom Wort Orient abgeleitet, dem geographischen Punkt des Sonnenaufgangs. Die erste Bedeutung des Wortes „Orient“ hängt mit dem Verb oriri zusammen, d.h. „ sich erheben, aufgehen, geboren werden“.
Die Sonne ist im eigentlichen Sinn des Wortesoriens, weil sie das
aufgehende Gestirn ist. Der Sonnenaufgang lenkt die ganze Welt und den Tag mit seinem Licht. Die Natur des U anzufangen und zu leben im Wissen um den richtigen, den ausgerichteten Weg. Der Sonnenaufgang weist Zeit und Raum des Tages bis zum Sonnenuntergang. Der Tag zwischen Sonnenaufgang und Sonnenuntergang ist Symbol des menschlichen Lebens, das eingespannt ist zwischen Geburt und Tod. Und hier, zwischen diesen beiden Polen, muss das Leben Sinn, muss es Richtung haben, es muss somit ausgerichtet, „orientiert“ sein. Die Geburt Jesu, das Ereignis der Menschwerdung Gottes, hat sich als Aufgang eines Lichtes geoffenbart, welches dem Leben jedes Menschen und jedes Volkes Richtung zu geben vermag. Sie lenkt es nicht auf den Tod, auf den Untergang hin, sondern auf eine Fülle des Lebens, die der Mensch sich selbst nicht geben kann. Die Hirten, die aufgefordert werden, das neugeborene Kind aufzusuchen, die Weisen, die gekommen sind, um Jesus anzubeten, geleitet vom geheimnisvoll erschienen Stern,
sie geben uns Zeugnis, dass Christus von seiner Ankunft in unserer menschlichen Welt an das Licht ist, das auf das Leben ausgerichtet ist, das dem Leben seine richtige Richtung, seinen Sinn gibt. Wer sich an Christus orientiert, findet in ihm die richtige Orientierung für sein ganzes Leben. Die Weisen kehren „auf einem andern Weg“ nach Hause zurück (Mt2,12), der nicht auf den Wunsch des Herodes hört, sondern vom Kind bestimmt ist, dem sie begegnet sind. Der greise Simeon hat sein ganzes Leben im Tempel verbracht, ausgerichtet auf die Begegnung mit Jesus. Und als diese Begegnung Realität wurde, als „das Licht, das die Heiden erleuchtet“ (Lk 2,32) sein Leben
erleuchtete, wurde auch sein Weg zum Tod für ihn ein „in Frieden scheiden“, ein Eingehen in das ewige Leben, das die Gegenwart Christi offenbart (vgl. Lk 2,29).
Jede wahre Begegnung mit Jesus gibt dem Leben Sinn, orientiert das Leben an seiner Wahrheit und Schönheit.
Aus dem Chaos herausfinden
Bevor Christus ins Leben der Personen und Gemeinschaften tritt, herrscht Chaos,
Verwirrung. Bevor wir dem Herrn, dem Licht der Welt, begegnen, sind unser Herz, unser Leben, unsere Beziehungen, istalles konfus. Denken wir bloss an den Zustand der Gedanken und Gefühleder Jünger von Emmaus, oder andie moralische Verwirrung der Beziehungen der Samariterin, oder an die geistige und spirituelle
Unruhe der Besessenen, oder an die Spannungen, welche der Ehrgeiz, der Erste zu sein, oder der Glaubensmangel in der Gruppe der Apostel aufkommen liessen.
Bevor sie Christus begegnet sind, waren sie alle desorientiert, wussten sie nicht wohin sie gehen sollten, auch und besonders, wenn sie meinten, auf dem richtigen Weg zu sein wie die Pharisäer, wie Saul von Tarsus. Es ist wichtig zu erkennen, dass diese Verwirrung vor allem in uns selbst, in unseren Gemeinschaften vorhanden ist. Wir dürfen aber nicht denken, dass dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit notwendig negativ sei. Oft ergibt es sich einfach aus der
Realität, in der wir uns befinden. Viele Gemeinschaften sind desorientiert, weil ihre Mitglieder mit zunehmendem Alter gebrechlich werden und Nachwuchs fehlt. Manchmal sind die Erschütterungen der Gesellschaft oder die politische undwirtschaftliche Lage eines Landes der Ursprung unserer Ratlosigkeit und des Gefühls der Orientierungslosigkeit . Es kann aber auch von einem einzigen Mitglied der Gemeinschaft herkommen und sich wie eine Ansteckung in der ganzen Gemeinschaft ausbreiten, z.B. wenn jemand sich in einer schweren Krise befindet
oder die Gemeinschaft verlässt oder sich schwere Verfehlungen gegen die gemeinsame Berufung zuschulden kommen lässt.
Auch wenn alles gut geht, kann es positiv sein, dass eine Person oder Gemeinschaft Momente erlebt, in denen sie sich neu orientieren muss, denn das bedeutet, dass man unterwegs ist, dass man vorwärtsgeht. Wer sich immer gleich hinlegt oder sitzen bleibt, wird nie das Gefühl haben, er verliere die Richtung, weil er sich nicht bewegt, weil er nicht geht. Immer wenn wir aus einer verwirrten Situation herausfinden, die richtige Richtung unseres Lebensweges wiederfinden müssen, ist es ganz wichtig, dass wir uns nicht an uns selbst oder an weltliche Führer wenden, sondern, wie wir jeden Morgen im Benedictus singen, an das „aufstrahlende Licht aus der Höhe, um allen zu leuchten,
die in Finsternis sitzen und im Schatten des Todes“, das allein „unsere Schritte auf den Weg des Friedens“ zu lenken vermag (Lk 1,78-79).
Seit den ersten Jahrhunderten hat die Ostung der Kirchen uns dazu erzogen, das Gebet als ein erneutes Ausrichten des Lebens in die richtige Richtung zu verstehen. Vom Orient her wird Christus wiederkommen. Vom Orient her kommt er bereits, im Osten geht er auf wie jeden Morgen die Sonne, nach jeder Nacht, auch nach den geistlichen Nächten, in denen wir die Orientierung des Lebens verlieren. Wir müssen immer beten, um dem Leben und allem, was uns zustösst, der Situation, in der wir uns befinden, Sinn und Richtung zu geben, denn diese Richtung, dieser Sinn ist Christus selbst, ist seine Gegenwart, ist Begegnung mit ihm, der auf uns zukommt, ist unser Unterwegssein mit ihm. Wenn wir nicht in diesem Sinn beten, stellen wir fest, dass in und um uns die Verwirrung, die Unordnung zunimmt und das Leben traurig macht. Das Gebet zaubert die Schwierigkeit, das Leiden, die
Zerbrechlichkeit nicht weg. Aber es lässt uns in all dem einen Sinn, eine Richtung, eine Ordnung finden und schenkt uns die Freude des Friedens.
Es ist der Herr!
Nicht das Gebet an sich gibt dem Leben Orientierung. Beten heisst nach Osten zu schauen, um die aufgehende Sonne zu sehen. Es ist diese aufgehende Sonne, ihr Licht, ihre Wärme, die uns befreien vom Wirrwarr der Finsternis und vom Schatten des Todes. Das Gebet verwandelt unser Leben, wenn es sich an die Gegenwart
Christi, die für uns aufgeht, wendet. Wie viel Zeit verlieren wir mit dem Suchen nach Lösungen und dem Fordern von
Veränderungen, wenn wir mit Problemen und Schwierigkeiten der Personen und Gemeinschaften konfrontiert
sind! Wir vergessen uns an Christus zu wenden, der gekommen, gestorben und auferstanden ist, um sich in jeder menschlichen Situation zu offenbaren und dem Schicksal Sinn zu geben! Lösungen werden
kommen und auch Veränderungen , aber sie sind nicht unser Werk, sondern der Widerschein eines Lichtes in und um uns, das uns die Augen geöffnet hat. Wie kann die lichterfüllte Gegenwart Christi in unser Leben
 hineinkommen?Wenn wir das Evangelium betrachten, stellen wir fest, dass sich der Herr sehr selten
blitzartig offenbart. Fast immer gibt er sich wie der Sonnenaufgang zu erkennen, wie das Morgenrot, das allmählich die Quelle seines Glanzes ankündigt und deutlich macht. Wie an jenem Morgen, an dem Petrus und einige Jünger auf dem See waren. Die ganze Nacht hatten sie nichts gefangen. Da erscheint ihnen der auferstandene Jesus wie ein Sonne es schon Morgen wurde, stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger wussten nicht, dass es Jesus war“ (Joh 21,4). Jesus kommt in ihre Verwirrung und Enttäuschung über die Erfolglosigkeit und weist ihnen die Richtung, er zeigt
ihnen, wie sie vorgehen müssen, damit ihr Leben fruchtbar, nützlich und glücklich wird: „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus, und ihr werdet etwas fangen. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es “(Joh 21,6). Da erkennt der Apostel Johannes, dass diese Gegenwart, die wie ein Sonnenaufgang war und ihr Leben auf seine Fülle hinwies, der Auferstandene ist: „Da sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: Es ist der Herr!“ (Joh 21,7).
Alle sehen und hören diese anwesende Gestalt, die sich immer deutlicher zu erkennen gibt, aber nur Einer erkennt Jesus und teilt diese Entdeckung dem Kameraden , der ihm am nächsten ist, mit. So wie nach und nach die lichtvolle Gegenwart Christi deutlich wird, so verbreitet sich auch die Erkenntnis, als hätte Johannes an diesem Osterfeuer eine Kerze angezündet und die Flamme Petrus und den andern weitergereicht. Und nun umgeben sie alle den Herrn, schweigend und voll Freude, ihn anbetend, voll liebender Zuneigung. „Keiner von den Jüngern wagte ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war. Jesus trat heran, nahm das Brot und gab es ihnen, ebenso den Fisch“ (Joh 21,12 – 13).
Müsste sich diese wunderbare Szene, deren Atmosphäre geprägt ist von feinfühliger Aufmerksamkeit und Freundschaft, nicht auch unter uns wiederholen? Müsste das nicht für uns ein tägliches, ein eucharistisches Ereignis sein? Wenn das nicht stattfindet, was nützt dann das Leben in Gemeinschaft, die gemeinsame Arbeit wie die der Fischer – Apostel, das gemeinsame Beten, das geme insame Essen? Und vor allem: W elchen Sinn hätte es dann, Schwierigkeiten, Erfolglosigkeit, das Abnehmen der Kräfte, das Schwinden unserer menschlichen Mittel gemeinsam zu tragen? „Jesus sagte zu ihnen: Meine Kinder, habt ihr nicht etwas zu essen? Sie antworteten ihm:  Nein“ (Joh 21,5). Wie oft, wenn Jesus erscheint und uns um die Frucht unserer Anstrengungen bittet, verschliessen wir uns im „Nein!“, das sich damit begnügt, unsere Grenzen zur Kenntnis zu nehmen, ohne uns nach mehr zu sehnen, ohne mehr zu suchen. Das Absurde dieser Verschlossenheit ist, dass wir nicht ein Mehr wollen, obwohl wir uns in der Gegenwart des unendlichen „Mehr“ befinden, das uns angeboten wird, das uns anschaut, zu uns spricht, sich nach uns sehnt. Die Sonne ist schon aufgegangen, und wir schliessen die Augen, um in der Nacht zu bleiben.
Die Augen des Glaubens
Der Herr hat sich schon geoffenbart in unserem Leben, im Leben der Welt. Als die
Hirten oder die Weisen nach Bethlehem kamen, war Jesus schon geboren. Und alle Jünger, die Zeugen der Auferstehung waren, machten ihre Augen auf, um den Gegenwärtigen zu erkennen, der das Grab schon verlassen hatte, den Magdalena schon gesehen hatte, als sie glaubte, er sei der Gärtner, der bereits seit Stunden mit den Jüngern nach Emmaus unterwegs war, eine Gegenwart, die schon am Ufer des Sees stand und sie anschaute, sie rief, auf sie wartete. Die Gegenwart Jesu wird nicht geschaffen, sie wird er kannt im Geschenk des Glaubens. Der Glaube ist wie die Augen: Sie sehen, nicht weil sie das Licht herstellen, sondern indem sie sich öffnen, um das Licht als Geschenk zu empfangen. Der Glaube ist immer ein Öffnen der Augen, um im Heiligen Geist das Licht der Gegenwart Gottes in Christus zu erkennen. Deshalb weist Jesus die Jünger immer nur dann zurecht, wenn es ihnen an Glauben
fehlt ,weil sie die Augen nicht auftun für das Licht, das ihnen schon geschenkt ist. Nichts schmerzt Christus mehr, als wenn wir die Augen schliessen vor der Herrlichkeit seiner Gegenwart. Deshalb hat Jesus über Jerusalem geweint:
„Als er näher kam und die Stadt sah, weinte er über sie und sagte: Wenn doch auch du an diesem Tag erkannt hättest, was dir Frieden bringt. (…) Du hast die Zeit nicht erkannt, in der du besucht worden bist“ (Lk 19,41…44).
Man ist nie einer Sache treu oder untreu, sondern immer Jemandem. Die Schönheit der Treue so vieler alter Mönche und Nonnen kann sich nicht an den Jahren und nicht an den Werken messen, sondern an der Frische ihres Verliebtseins in Christus. Und wenn jemand das Kloster verlässt, vielleicht sogar eines der jüngsten Mitglieder, so ist der Grund fast nie schwerwiegende Untreue, sondern dass es nicht verstanden hat oder es nicht zustande brachte, die Augen zu öffnen für das Licht der Gegenwart Christi, die allein jeder Berufung und der menschlichen Schwachheit, mit der sie gelebt wird, Sinn gibt. Die Gegenwart Gottes ins Zentrum stellen, sich an der Gegenwart des Herrn ausrichten, laufend von seinem Erscheinen in unserer Alltäglichkeit der Beziehungen und Handlungen leben, das ist das grosse Werk des christlichen Lebens, welches die Mönche und Nonnen eigentlich privilegieren sollten. Unsere Aufgabe in der Kirche, was auch immer wir tun, ist es, uns an Christus zu orientieren, der unter uns lebt, um
„allen zu leuchten und (…) unsere Schritte zu lenken auf den Weg des Friedens“ (Lk 1,79), des Friedens für uns, für alle, des Friedens der Gemeinschaft mit dem Vater im Heiligen Geist durch Christus, den Erlöser der ganzen Menschheit. Nur so erhalten unser Glaube und unsere Berufung eine Bedeutung für die Welt, weil sie ihr ihre eigene Bedeutung und die Bedeutung jeder Realität vermitteln. Eine einzige Person, deren Herz auf Christus und von Christus ausgerichtet ist, verwandelt das Chaos in eine auf ihr Ziel , ihre Bestimmung hin geordnete Wirklichkeit, selbst wenn die Welt das gar nicht zur Kenntnis nimmt. Gerade deshalb hat Gott die Kirche in die Welt gesetzt, wie der Psalm 88 singt: „Selig das Volk, das dich als König zu feiern weiss! Herr, sie gehen im Licht deines Angesichts“ (Ps 88,16). Sind wir dieses Volk? Und ist unser Orden, sind unsere Gemeinschaften dieses glückliche Volk, weil es im Licht des offenbarten Angesichts,des offenbarten Geheimnisses, im Licht Christi des Herrn geht?
Sich an Christus neu ausrichten
Wenn wir uns oft verloren, orientierungslos fühlen, selbst wenn wir unserer Berufung in unserer Gemeinschaft treu sind, wenn gewisse Situationen uns verwirren, uns unsicher machen, so dass wir nicht mehr wissen, wo der Weg lang geht, oder wenn die Versuchung gross wird stillzustehen und gar zurück zu gehen, dann geschieht das, weil wir die Ausrichtung unseres Lebens an Christus vernachlässigt haben, weil wir persönlich oder in der Gemeinschaft uns nicht wirklich nach der Sonne richten, die unsere Schritte lenkt. Wir erheben den Anspruch oder meinen einfach leichtfertig, wir könnten uns im Leben
zurechtfinden, ohne uns an Christus zu orientieren. Wir glauben, die Himmelsrichtungen unserer Existenz definieren zu können, ohne auf den Punkt des Sonnenaufgangs zu achten. So kommt es nicht selten vor, dass Personen oder
Gemeinschaften überzeugt sind, die richtige Richtung eingeschlagen zu haben, obwohl sie gerade in die entgegengesetzte Richtung gehen. Wer nicht nach Osten schaut, wo die Sonne aufgeht, kann sich nicht mit Sicherheit nach Norden, Süden oder Westen richten.
Aber wie kann man sich von der Gegenwart Christi, der für uns aufgehenden Sonne, leiten lassen? Es würde genügen, aufmerksam die Regel des heiligen Benedikt zu lesen und zu meditieren, und sie in unserem Leben und in unserer Situation umzusetzen, um diese Orientierungsfähigkeit, die der christlichen Weisheit entspricht, zu lernen. Die gesamte Tradition der Kirche und das Lehramt, das sie aktualisiert, sind uns dazu gegeben. Wenn ich an die Situation und die Bedürfnisse unserer Gemeinschaften, und nicht nur unserer Gemeinschaften, denke, scheint es mir wichtig, zwei Punkte besonders hervorzuheben.
Das Schweigen, das sich auf Jesus richtet
Vor allem müssen wir uns immer wieder bewusst werden, dass nur Christus der wahre Weg ist (vgl. Joh 14,6). Nur er führt uns zum Vater, zum Ursprung und Ziel aller Geschöpfe, jedes Menschen, jedes Herzens. Wir müssen uns bewusst werden, dass Christus
nicht theoretisch, sondern in der Tat der Weg ist, den er selber mit uns geht, indem er uns begleitet, und das bedeutet, dass er tatsächlich gegenwärtig ist. Alles muss immer wieder ausgehen vom Blick, der ihn als Anwesenden erkennt. Anwesend in unserem Herzen, in der Kirche, in den Sakramenten, in seinem Wort, in unserem Nächsten, im Armen. Diese Erkenntnis ist ein stiller Blick. Das drückt der Brief an die Hebräer aus: „ Da uns eine solche Wolke von Zeugen umgibt, wollen auch wir alle Last und die Fesseln der Sünde abwerfen. Lasst uns mit Ausdauer in
dem Wettkampf laufen, der uns aufgetragen ist, und dabei auf Jesus blicken, den Urheber und Vollender des Glaubens“ (He 12,1-2a).
Alles wird zu nutzloser Last, wird sinnlose Anstrengung, wenn wir nie Halt machen, undwäre es nur einen Augenblick, und schweigend den Blick auf Jesus richten. So wie die Szene am Ufer des Sees von Tiberias es schildert:
„Keiner von den Jüngern wagte ihn zu fragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war“ (Joh 21,12). Die Jünger stehen da, schweigend, und schauen auf Jesus und warten auf eine Initiative. Der Ausruf des Johannes – Es ist der Herr! – ist jetzt stille und anbetende Einsicht ihres Herzens geworden : Sie brauchen nicht zu sprechen, zu fragen, weil „sie wussten, dass es der Herr war“. Diese Haltung ist es, die Jesus sich immer deutlicher offenbaren, sich immer gegenwärtiger werden lässt: „Jesus trat heran, nahm das Brot und gab es ihnen, ebenso den Fisch“ (Joh 21,13). Das Schweigen, das auf Jesus gerichtet ist, öffnet uns für die Eucharistie, die totale Hingabe Christi an den Menschen: Christus lässt sich von uns verzehren, damit wir ER werden.
Miteinander über Christus sprechen
Diesem Schweigen entspringt die Fähigkeit, miteinander von Christus zu sprechen. Nachdem die Hirten das Kind angebetet hatten, sprachen sie mit allen Anwesenden darüber : „ Als sie es sahen, erzählten sie, was ihnen über dieses Kind gesagt worden war“ (Lk 2, 17). Die Jünger vom Emmaus erzählen von dem, was die Gegenwart und das Wort Jesu in ihrem Herzen ausgelöst hat (vgl. Lk 24,32). Die Apostel erzählen dem Thomas und später der ganzen Welt von Jesus (vgl. Joh 20,25). Mich erstaunt, wie wenig man in den Geme inschaften über Christus spricht, wie
ungewöhnlich es für uns ist, über seine Gegenwart und sein Wort zu sprechen, und wie sehr wir es vernachlässigen, uns gegenseitig darauf aufmerksam zu machen, warum wir unterwegs sind und wohin wir gehen, obwohl wir doch gemeinsam gehen. Wie schön ist es, sich gegenseitig das Licht der Sonne weiterzugeben, das unsere Schritte lenkt !
Wenn uns manchmal der Friede im Herzen und in den Beziehungen fehlt, dann gerade deshalb, weil wir uns nicht helfen, uns an Christus auszurichten und den Weg des Friedens einzuschlagen. Sogar die Gottesmutter und Joseph waren auf die Hilfe jener angewiesen, die das Kind betrachtet hatten und darüber sprachen. Der greise Simeon, der Jesus im Tempel in die Arme nimmt, sagt: „Meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet“ (Lk 2,30 – 32). Dann spricht er mit Maria und Joseph über Jesus: „Dieser ist dazu bestimmt, dass in Israel viele durch ihn zu Fall kommen und viele aufgerichtet werden, und er wird ein Zeichen sein, dem widersprochen wird…“, und schliesslich verkündet er die Bestimmung der Mutter im Heilswerk des Sohnes: „Dir selbst aber wird ein Schwert durch die Seele dringen“ (Lk 2,34 – 35).
Liebe Brüder und Schwestern, nichts scheint mir dringender für uns und die Menschheit, als den auf Christus, die aufgehende Sonne, gehefteten Blick ins Herz unserer Berufung zu stellen. So werden wir unter uns und mit allen zu Zeugen für dieses Licht. Möge das unser Geschenk sein, das wir uns selber, der Kirche und der Welt zu diesem Weihnachtsfest und immer dar bringen!
Fr. Mauro – Giuseppe Lepori Generalabt OCist
Bild: Fr. Mauro-Giuseppe Lepori Generalabt OCist